Gibt es bei Betrachtung einer Plastik notwendig Erkenntnisse jenseits 
einer suggestiven, frontalen, zweidimensionalen Präsentation?
"Natürlich ist eine Reproduktion eine Reproduktion..." und "Auch im Abitur wird eine Reproduktion analysiert, eine von Beuys oder von Matisse, das macht trotz allem den entscheidenden Unterschied!"(Hessel). Der Erkenntnisgehalt dieser Aussagen ist nicht gerade überwältigend, und er hilft nicht weiter bei der Frage wie Reproduktionen beschaffen sein sollen, damit sie als Ausgangspunkt von Analysen dreidimensionaler Bildwerke geeignet sind. "Es war einmal an der Zeit, eine Bildhauerarbeit analysieren zu lassen, ... und die Gelegenheit zu einem neuen Aufgabentypus zu ergreifen."(Hessel)

Die Raumsituation im Museum
Wenn man den Beuys-Raum in der Stuttgarter Staatsgalerie durchschritten hat, stößt man links neben seinem Ausgang auf die "Kreuzigung". Das Objekt ist auf einem ca 1m hohen weißen Sockel und unter einer Haube aus Plexiglas wandnah rechts neben einer größeren "Vitrine" aufgestellt. Im Gegensatz zur Reproduktion in den Stuttgarter Mappen steht das Objekt vor einer weißen Wand und unter einer kantigen Glashaube auf einer Höhe, die der Ansicht des Fotografen erst einmal widerspricht. Das Objekt schrumpft im Museum gegenüber der monumentalisierenden Reproduktion auf seine wahren Proportionen. Neben den anderen eher ausladenen Objekten und Installationen in diesem Raum ist die "Kreuzigung" eher ein Kabinettstückchen und würde in einem Kirchenraum -wie durch die Interpreten Bier & Borst vorgeschlagen- aus sich selbst heraus ziemlich verloren und unscheinbar wirken. Da müßte die Kirche ansonsten schon leergeräumt werden, um eine derartige Miniatur zu einer respektablen Wirkung zu bringen.
Blickpunkt u. Perspektive des Museumsbesuchers
Um den beiden Flaschen eine statuarische Erscheinung zu verleihen hat sich der Fotograf (bezogen auf die Ausstellungssituation im Museum) auf die Augenhöhe eines Achtjährigen herabgelassen. Der erwachsene Museumsbesucher schaut, zumindest in Stuttgart, auf das Objekt eher herab. Anders als der Fotograf -die Aufnahme entstand womöglich anläßlich einer Berliner Ausstellung- waren also die Museumsleute hier der Ansicht, daß die Zettel auf den Flaschen lesbar sein sollen. Das wird im Museum nicht durch die Perspektive unterbunden. Andererseits sorgt das Oberlicht in diesem Raum für Reflexe auf dem Glaskubus und erschwert dadurch die Lesbarkeit der Texte auf den Schraubverschlüssen der Flaschen. 
Jedenfalls geht diese Art der Präsentation zu Lasten der Monumentalisierung, die der Fotograf in der Reproduktion der Stuttgarter Mappen anstrebte. Aus der hier gezeigten "Normalsicht" (Augenhöhe) geht auch der Blick für die statuarische Qualität der Flaschen völlig verloren. Ist das Objekt also im Museum schlecht präsentiert und kommt vielleicht überhaupt die Fotografie den Intentionen des Künstlers Beuys mehr entgegen als das reale Objekt? 
These: Es kann bei der Reproduktion eines dreidimensionalen Objekts nicht egal sein aus welcher Sichthöhe es wiedergegeben wird.
Rückansicht
Die Aufstellung im Museum betont als Hauptansicht die Seite, die auch der Fotograf der Reproduktion wählt. Der Sockel steht ca 30cm vor der Raumwand. Das gestattet den seitlichen Blick, schließt aber aus, daß man um das Objekt herumgehen könnte. Immerhin kann man eine Kamera in die Gasse schieben und die Rückansicht aufnehmen. Insbesondere an der linken Flasche zeigt sich nun eine regelmäßige Aussparung in der Einfärbung, das braune Glas (oder Plastik?) wird sichtbar, man sieht, daß die Flaschen leer sind. Die Beleuchtungssituation im Raum verleiht den Flaschen ein inneres Leuchten. Deutlicher als von vorne sieht man nun die Kabel und ihre ausgefransten Enden. Die hintere der beiden vertikalen Leisten erweist sich als keilförmig nach unten zugespitzt (das gibt leider das Foto nicht her). Ganz offensichtlich ist der oben am Hauptmast angebrachte Zeitungsauschnitt auch auf der Rückseite bedruckt. 
These: Im Gegensatz zu einer Malerei möchte man bei einer Plastik für eine Erfassung des Objekts das Gebilde umschreiten und von mehreren Ansichten betrachten. Daraus könnte man ableiten, daß Reproduktionen von Plastik andere Anforderungen stellen als es Reproduktionen von Malerei oder Grafik tun.
Farbe und Text
Zum Charakter von Plastik gehört, daß sie Beziehung aufnimmt zu ihrer dreidimensionalen Umgebung. Anders als bei einem Gemälde läßt sich ein solcher Austausch auch nicht durch einen Rahmen abschirmen oder ausgrenzen. Wenn man also ein Objekt fotografiert, dann fängt man immer auch einen Teil einer Situation ein, in die das Objekt eingebettet ist. Fotografen, die das vermeiden wollen, wählen einen entsprechenden Ausschnitt oder stellen das Objekt vor einen "neutralen" Hintergrund. Bei der Reproduktion der Kreuzigung ist dieser Hintergrund schwarz, und das ist alles andere als neutral in diesem Fall. Der schwarze Hintergrund kontrastiert das Weiß der gekalkten Flaschen und verstärkt auch die Wirkung der diversen Brauntöne von Holz, Papier und roter Farbe. Beim Foto kommt noch ein hartes, präzises, frontales Kunstlicht hinzu. Die weiße Wand des Museums hingegen vermeidet eine derart zugespitzte Dramatik. Jedenfalls ist Schwarz als Hintergrund und Einbettung eine Hinzufügung (des Fotografen?) zum Objekt, mit der die Umrisse der Formen betont werden und damit auch deren Plastizität deutlich verflacht wird.
These: Ein plastisches Objekt nimmt in anderer Weise als die meiste(!) Malerei Beziehungen zu ihrem Umraum auf, die durch eine "Freistellung" verfälscht wird. Zur Betrachtung eines Objekts (auch der Malerei) wäre die Darstellung eines solchen Kontexts wünschenswert.
Seitenansicht
In der Seitenansicht verliert sich die Symmetrie. Die Verschnürung der beiden Leisten wird als Umklammern deutlich und man sieht, daß das Objekt sich mehr in die Tiefe als in die Breite erstreckt. Das gibt der Anordnung den Charakter eines Floßes. Wer da noch eine Kreuzigungsszene assoziiert, besitzt ein robustes Gedächtnis, aber keine offene Wahrnehmung. Was von vorne kaum wahrnehmbar ist: Über die Flaschen ragt wie eine provisorische Angel ein krummer Draht. An seinem zur Schlaufe gebogenen Ende hängt ein dünner Faden und daran eine Nadel wie eine Art Senkblei. Was wird da ausgelotet, welche Erschütterungen sollen da angezeigt werden? Sieht man die ganze Anordnung als eine Art Meßistrument, dann wird eine Analogie zu einem anderen Objekt in diesem Raum augenfällig. 
Die Angel korrespondiert mit den beiden Balken, auf denen die Flaschen stehen, nicht etwa mittig und ausgewogen, sondern an einem Ende, wie kurz vor dem Absprung. Wenn die Flaschen figürlich zu sehen sind, wo ist dann ihre Vorderseite, wohin geht ihr Blick, ihr Tritt? Während beide Flaschen frontal gesehen mehr und weniger nach rechts geneigt sind, stehen sie aus dieser Ansicht so aufrecht wie Wachposten, die nach Land Ausschau halten. 

In der Profilansicht spricht viel deutlicher als von vorne oder hinten die Verschnürung, Verbindung der beiden senkrechten Leisten. Wer da wem Halt gibt, an wen gebunden, gefesselt ist, das ist nicht klar zu sagen. Auffallend ist, daß viele Elemente zweimal vorkommen: Zwei Sockelbretter gegeneinander verkreuzt,  zwei vertikale Leisten mit zwei Schnüren aneinander gebunden, zwei Balkenstücke parallel gerichtet als Basen, Sprungbrett , Waagbalken für zwei darauf verklebte Flaschen. Das Paar ist demnach ein Leitmotiv. Der freie Stand der Flaschen ist nur scheinbar, jede ist unverrückbar an ihre eigene Basis geklebt. Die Flaschen haben keine gemeinsame Basis, erst die jeweiligen Balkenstücke sind mit Massiven und groben Nägeln an die Sockelbretter geheftet. Die Seitenansicht verändert den Charakter und die Bedeutung des Objekts ganz elementar. 
Fazit: Hier liegt der simple aber erhebliche Unterschied zwischen einem plastischen Gebilde und einer Malerei oder Grafik. Die Profilansicht eines Gemäldes ist für eine Interpretation in der Regel verzichtbar. Bei der Plastik könnte sie etwas offenbaren, was aus einer anderen Ansicht nicht hervorgeht. Warum wohl wählt ein Künstler die Plastik als Ausdrucksmittel? Wäre es bei einer Abituraufgabe aus dem Bereich Plastik zu viel verlangt, zwei oder drei Ansichten zu liefern? Wenn schon ein neuer Aufgabentypus kreiert werden soll, warum benützt man dann eine völlig identische alte Struktur, Les-, Schreib- und Denkart?

Ikonografie: Flaschen und Kreuze bei Beuys
Adresse unbekannt verzogen
Die 8 Abbildungen waren im Internet zu finden. Ich habe sie mit den originären URL's verlinkt. Klick genügt!
Der Titel "Kreuzigung" führt den Interpreten auf eine Fährte, die intendiert sein mag, aber keineswegs zwingend ist. Wenn man sieht, wie Beuys in anderen Kontexten mit dem Symbol Kreuz umgeht, dann muß eine christliche Deutung zumindest als Einengung verstanden werden. Jedenfalls kommt in den 60er Jahren das Kreuzmotiv auf mehreren Stempeln vor, mit denen er alle möglichen Dinge (eigene oder fremde) versehen hat, um sie als Objekte seinem Fluxuskosmos einzuverleiben. So heißt das Kreuz in seiner universellen Bedeutung als eine Markierung wohl zunächst einmal "Beuys was here". Und vielleicht liegt es näher, das Fluxusmal mit Malewitsch in Verbindung zu bringen als mit Grünewald. Auch die rote Farbe, die in der "Kreuzigung" sofort mit Blut assoziiert wird, kommt in den 'Duftmarken' des Fluxuskünstlers nicht selten vor. Flaschen und Dosen, einzeln oder paarweise, leer oder gefüllt gehören zur Objektwelt von Beuys. Daß sie Behältnisse, Speicher darstellen, dem Flüssigen eine feste Form geben, figürliche Assoziationen wecken, das macht der Künstler durch kleine Veränderungen, Hinzufügungen mehr oder weniger deutlich.
These: Das der Aufgabenstellung beigefügte Zitat gibt dem Schüler eine Interpretationsrichtung vor, die dem Künstler illustrativ-illusionistische und literarische Absichten unterstellt. Das unterstreicht auch der Aufgabenteil, der die Schüler zum Abzeichnen der Reproduktion auffordert.