Müssen Abiturienten
sich vor Drucksachen bebeuysen? Kommentar zum Kunst Abitur 2001
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„Bildnerische Analyse
a) Detailstudien Wählen Sie zwei klar voneinander unterscheidbare Details! Zeichnen Sie diese Einzelheiten leicht vergrößert in der Weise, daß deren Materialeigenschaften und Bearbeitungsspuren deutlich zum Ausdruck kommen!“ |
Als Unterrichtender im Fach Kunst darf
man sich die Frage stellen, die schließlich auch ein Schüler
des Leistungskurses erwägen muß, bevor er ans Werk geht, die
Frage nämlich, welchen Sinn eine derartige Aufgabe machen könnte.
Man kennt hierzulande ähnliche Aufgaben zu Werken der Malerei (Aufgabe IV im selben Abitur; dort heißt es „2b Wählen Sie einen geeigneten Bereich aus jedem Bild und stellen Sie diese Ausschnitte vergrößert dar! Machen Sie darin Farbauftrag und Farbgebung sichtbar!“ an zwei Bildern von Matisse, eines davon eine Collage!) Da
es um das Abzeichnen einer fotografischen Reproduktion geht, auf
der diverse, mit Farb- oder Gipsspritzern verdreckte Hölzer vernagelt,
verkabelt und mit zwei Flaschen verklebt abgebildet sind, welche (offenbar
nur auf einer Seite) mit einer weißlichen Spritzschicht überzogen
scheinen, geht die Mutmaßung in eine relativ klare Richtung. Anhand
der Abbildung des Beuys-Objekts soll eine Sachzeichnung gefertigt werden
– Farbe ist nicht einmal ausdrücklich verlangt. Man stelle sich
also vor: Hunderte von Leistungskursschülern aus Bayern wetteifern
an diesem Tag des zentralen Abiturs, dem Höhepunkt ihres schulkünstlerischen
Daseins, um den Preis für diejenige Zeichnung, die ein Objekt von
Beuys möglichst treffend in den Oberflächenqualitäten wiederzugeben
vermag. Oberflächenqualitäten, die ihnen zum Teil Beuys eigenhändig
verliehen haben mag, die zum Teil aber schlichtweg der Bauschutt verursacht
haben wird, aus dem die Hölzer stammen, und die auf der Abbildung
in jedem Fall ein Resultat einer zielgerichteten fotografischen Ausleuchtung
sind.
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„b) Studie(n)
zur Komposition der „Kreuzigung“
Untersuchen Sie zeichnerisch den Gesamtaufbau der „Kreuzigung“! Klären Sie in mindestens einer Studie axiale Bezüge und die Zuordnung der einzelnen Körper im Raum!“Für beide Aufgabenteile zusammen gibt es 20 BE, also ein Drittel der möglichen 60 BE Gesamtpunktzahl. |
Der Schüler stellt also die geradezu
autoritäre Frontalität und die strenge Achsensymmetrie
des Objekts fest, die auch den Fotografen bereits so beeindruckt hat, daß
er ihr nicht ausweichen konnte. Wenn er gut ist, kommt er vielleicht auf
die Idee, sich das Objekt im Grundriß vorzustellen. Die Kamera
jedenfalls unterstellt einen Blick fast „Aug' in Aug‘“ mit den solchermaßen
figürlich inszenierten Flaschen. Ist die fotografische Aufnahme
Objekt der Analyse oder soll aus ihr das Beuys’sche Gebilde rekonstruiert
werden, oder aber schließt das eine das andere mit ein. Interpretiert
der Fotograf im Beuys’schen Sinn, gibt es also im klassischen Sinn eine
Hauptansicht
von der „Kreuzigung“ etwa vergleichbar mit der Hauptansicht der Laokoongruppe?
Will Beuys nicht, daß wir das braune Glas der Flaschen von hinten
sehen (wie man ja auch Theaterkulissen nicht von hinten bemalt) oder die
Kreuze auf den ‚Doktorhüten‘ der Flaschen? Ist das Objekt etwa eine
Plastik
vom Typus Relief und gehört möglicherweise der tiefschwarze
Hintergrund zum Objekt oder ist er die ironische Hinzufügung eines
sozialdemokratischen Fotografen, der hier das Werk des 'Grünen' Beuys
aus Rache für die roten Kreuze in einem christdemokratischen Sinn
zurechtrücken will?
Wenn ein „klassisches Werk“ der Malerei auf Bildachsen hin untersucht wird, oder wenn ein ebensolches Werk etwa der figürlichen Plastik auf sein Achsen- und Bewegungsgerüst befragt wird, dann liegt für den Schüler darin insofern ein Sinn, als etwa achsiale Überlegungen auch in der „klassischen“ Malerei zum Entwurf einer Komposition gehörten, dem Modell einer plastischen Figur als konstruktives, statisch notwendiges Gerüst vorausgingen. Muß der Abiturient von einem Beuys’schen Objekt den Eindruck mitnehmen, daß die leichte Schieflage der beiden Flaschen aus der „Kreuzigung“ eine Intention von Beuys darstellt etwa in dem Sinn, daß die rechte Figur (im Sinn einer klassischen Kreuzigungsszene wäre das Johannes) angesichts des vom Schmerzensmann verlassenen Kreuzes einer Ohnmacht nahe ist <wie schreib' ich das bloß ins Evangelium?>, während die wackere und im Glauben unerschütterliche Maria sich noch gut in der Vertikalen hält, aber ihre leichte Neigung zum Holz hin als Geste des mütterlichen Mitleidens mit dem nicht vorhandenen Sohn komponiert wurde? Oder soll diese Schieflage gar nicht bemerkt werden, soll bei einer Suche nach Achsen der Schüler die „Vollkommenheit symmetrischer Ordnung“ als das unerschütterliche Zeugnis göttlichen Willens selbst in der Stunde seiner tiefsten Erniedrigung erspüren, oder gar in dem Objekt ein Beuys’sches Zeugnis kirchlicher Weltsicht (katholischer oder evangelischer) lesen? Die Autoren Bier und Borst, die in den Stuttgarter Mappen das Werk beschreiben, wünschen sich eine Aufstellung in einer Kirche und bemühen einen Jesuiten um eine Interpretation nicht des Objekts, aber der Beuys’schen Sicht von Künstlertum und Kreativität, zu der der Mensch angeblich durch den Auferstandenen befreit wird. Ist etwa der Beuys’sche Satz nach dem ‚jeder Mensch ein Künstler‘ sei, so zu verstehen, daß erst der Auferstandene dieses Mysterium bewirkt hat, also der Kerngedanke der Eucharistie je schon die Idee von der sozialen Plastik war. Wird Joseph Beuys mit dieser Offenbarung etwa zum Johannes des 20. Jhs und erklärt dies irgendwie die festgestellte Schieflage? Soll der bayerische Schüler bei der Untersuchung von Achsen am Beuys’schen Objekt die Entdeckung machen, daß der bei einer Kreuzigung zu vermutende horizontale Balken des Kreuzes vom Meister in genialer Absicht in die senkrechte gedreht und mit einem Elektrokabel zweifach vertikal an den Hauptmast gebunden wurde? Und welche Schlüsse soll er daraus ziehen? Ist "Kreuzigung" vielleicht ein Titel, der uns völlig in die Irre führt, sondern geht es bei dem in Weiß verkleideten Pärchen ("Verlobung geben bekannt") um ein Sinnbild des Sakraments der Ehe, für das sich auch die ungläubigsten Taufchristen, der würdevollen Zeremonie wegen, unters Holz des Gekreuzigten stellen, der seinerseits aus Gram darüber den ehedem geweihten Ort verlassen hat. Sind die beiden Flaschen, die von der Form her jede Unterscheidung in männlich und weiblich unmöglich machen, etwa gar in den Jahren 1962/63 eine antizipatorische Ahnung, ein Vorgriff auf die gleichgeschlechtliche Ehegemeinschaft, die heute, nach 40 Jahren in Europa Wirklichkeit wird? Dann wäre die Schräglage der rechten Figur ein Taumeln vor Freude? Die Analyse führt über eine
Beschreibung zur Interpretation, für die es nur 12 BE zu gewinnen
gibt. Bier und Borst schreiben dazu in den Stuttgarter Mappen:
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