Artikel der Kunstlehrerin Gisela Meining-Schopf in der Zeitung der Schwabinger Steiner-Schule im Sommer 2001
 
Das Kultusministerium und die Philosophie der Freiheit

Es geschehen noch Zeichen und Wunder, es passieren Dinge, die ein wohlgeordnetes Weltbild locker über den Haufen werfen! Ist doch allen von Grund auf klar, dass die „Staatsschule“ auf ganz andere Dinge Wert legt, so findet sich nun in der LK Kunst Prüfung 2001 eine Aufgabenstellung, die ein altgedienter Waldorf-Lehrer, hätte er die Gelegenheit dazu, auch nicht anders stellen würde!

Gegeben war die Abbildung eines Objektes, aus Fundstücken flüchtig zusammen montiert, mit dem seltsamen Titel „Kreuzigung“. Keine Szenerie, kein gemaltes Bild, keine gestenreiche Plastik, deren Inhalt leicht zu erschließen wäre, sondern reale, der gewohnten Umgebung enthobene Dinge wie Milchflaschen, Elektrokabel, Zeitungsausschnitte, altes Holz.... waren Gegenstand der Betrachtung. Diese wurden in Kombination mit dem Titel zu Trägern hoch symbolischer und abstrakter Gedankengänge.
Dazu ein Zitat des Künstlers:
„ Die Entwicklung des Christentums ist nur so denkbar, dass sie zunächst einmal in die Einsamkeit führt.... Denn zunächst muß der Mensch das einmal durchmachen, was Christus durchgemacht hat. Er muß zuerst einmal auf der Erde ankommen, das heißt, er muß sich erst einmal an der wirklichen Materie stoßen“ (Beuys 1979)

In der Einsamkeit der Prüfungssituation von fünf vollen Stunden ging es nun darum, sich dieses Objekt auf dem gleichen Weg zu erschließen, wie es entstanden war. Man kann sich den Künstler Joseph Beuys vorstellen, voller Gedanken und Fragen, in viele Richtungen suchend und forschend und voll missionarischen Eifer, wie er geistesgegenwärtig oder gedankenversunken, subjektiv und intuitiv diese Dinge zusammenstellt und ihnen Bedeutung gibt.
In der Prüfung nun der gleiche Weg in die andere Richtung: aus dem sehr genauen Beobachten und Wahrnehmen der Qualitäten des Objektes, der Oberflächenbeschaffenheit, der Form, Farbigkeit, den haptischen Qualitäten, der Anordnung im Raum.... entstehen nun innerlich Empfindungen, Gedanken, Bezüge, Intuitionen.... denen die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt werden muß  wie allen äußeren Eindrücken. Schritt für Schritt ergibt sich ein ganzes Gedankengebäude, mit offensichtlichen Zusammenhängen aber auch offenen Fragen. Geistesgegenwart ist gefordert, ein Denken ins Unbekannte, ein Zusammenschauen verschiedenster innerer wie äußerer Eindrücke. Es ist nicht möglich, die „Schublade Beuys“ zu öffnen und Angelerntes wiederzugeben. Der muß von vorne herein verstanden sein, ebenso die Methodik der Bildanalyse. Alles weitere ist freies Denken. Es gehört eine Portion Mut dazu, sich  hier Schritt für Schritt Bedeutungen zu erwandern. 

Is‘ ja locker, denkt sich da der coole Abiturient, ich gehe in die Kunstprüfung, phantasiere ein bißchen und hab’s dann! So ist es erwartungsgemäß nicht. Der Gehalt und die Tiefe der Gedanken stehen in einem engen Verhältnis zu der Aufmerksamkeit und dem Interesse, das grundlegend gegenüber dem Wissensgebiet aufgebracht wurde. Und es bleibt nicht nur bei einem Wissensgebiet: Deutsch - Philosophie- Religions- Kenntnisse kommen hier genauso zum Einsatz, wie die Fragen der Kunstgeschichte! Und dennoch ist das Wissen nicht Ziel der Prüfung, sondern Grundlage, um die eigenen Denkfähigkeiten in der Prüfung vorzuführen! Wissen dient hier nicht dem Selbstzweck sondern schärft und weitet den Blick für genaues Beobachten und Differenzieren von Empfindungen. Auch Erleben und Intuition bleiben hier nicht Selbstzweck, sondern werden zum Fundus und Motor für Fragen, die formuliert sein wollen! Eine spannende Gratwanderung zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Intellekt und Gefühl, zwischen Künstler, Objekt und Betrachter(in)....! Scheinbar gegensätzliche Pole werden in Verbindung gebracht und daraus entsteht  Gedankenenergie(Bedeutung des Elektrokabels?!) und Erkenntnis  in einem sehr umfassenden Sinn!

Von den 28 Schülerinnen und Schülern ( 17 aus der Steiner-Schule Schwabing, 11 aus dem Gymnasium), die sich am 15. Mai im Gymnasium Unterhaching dem Kunst-Abitur gestellt haben, hat eine Schülerin diese Aufgabe gewählt.   

 
Gisela Meining-Schopf