Duchamps Gemälde nimmt als Werk eine
Zwitterstellung ein zwischen Futurismus und Kubismus. Tomkins weiß
darüber zu berichten, dass Duchamp das Bild 1912 zum Salon des Indépendants
einreichte, den eine Gruppe um Gleizes und Metzinger für einen Großauftritt
ihres "vernünftigen Kubismus" nutzen wollten. Dieser Gruppe erschien
Duchamps Gemälde...
"als Verspottung der kubistischen
Ästhetik; zudem dachten sie es stehe vom Geist her einigen der futuristischen
Gemälde viel zu nahe, die einen Monat zuvor.. in der Galerie Bernheim-Jeune
gezeigt worden waren.(Mit ihren dezidierten Attacken auf die Kubisten als
akademische
Künstler, die sich von der Tradition lähmen ließen,
sorgten die Futuristen in Paris für erheblichen Aufruhr; daß
sie obendrein auch noch kubistische Techniken übernahmen, setzte
Beleidigung auf Demütigung.) Gleizes und Metzinger kamen jedenfalls
zu dem Schluß, daß das Bild des jüngsten Duchamp-Bruders
dem Anliegen des vernünftigen Kubismus abträglich sein
würde, und ihre Argumente überzeugten offensichtlich auch andere
in der Gruppe. Jacques Villon und Raymond Duchamp-Villon wurden delegiert,
um ihrem Bruder das mitzuteilen. Förmlich mit schwarzen Anzügen
wie zu einer Beerdigung bekleidet, suchten sie ihn am Tag vor der offiziellen
Eröffnung des Salon in seinem Atelier in Neuilly auf. <<Die
Kubisten finden, daß es ein wenig daneben ist>>, so sagten sie laut
Duchamps Erinnerung zu ihm. <<Könntest Du nicht wenigstens den
Titel ändern>> Sie meinten es sei ein zu literarischer Titel,
im schlechten Sinne - eher karikaturistisch...Selbst ihr kleiner revolutionärer
Tempel brachte kein Verständnis dafür auf, daß ein Akt
die Treppe herabsteigen konnte".
(Calvin
Tomkins "Duchamp" ,S.101)
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Duchamp fuhr mit dem Taxi zur Ausstellung
und holte das Bild ab, hielt sich in der Folgezeit aber auf Distanz zu
den "vernünftigen Kubisten", deren Treiben auch Picasso und Braque
mit Distanz begegneten. Das Bild erregte kein Aufsehen bei einer
ersten Kubistenausstellung in Barcelona im selben Jahr und sorgte auch
nicht für Wirbel, als es im Herbst nochmals zu Ausstellung in Paris
kam. 1913 reiste das Bild nach Amerika und wurde in der Armory Show
für New York zu einer Ikone des Modernismus europäischer
Malerei und wurde für nur 342 Dollar verkauft.
"Am Abend des 17. Februar 1913 wurde
in New York an der Ecke Lexington Avenue und 25th Street die große
Armory
Show eröffnet. Damit begann in den Vereinigten Staaten die allgemeine
Rezeption
der modernen Kunst. Viele der ersten Reaktionen sind negativ. So artikuliert
z.B. der frühere amerikanische Präsident Theodore Roosevelt
nach seinem Besuch der Ausstellung am 4. März 1913 seinen prinzipiellen
Abscheu
gegenüber dem Kubismus. In seinem Artikel, der auf deutsch »Laienhafte
Ansichten zu einer Kunstausstellung« heißt, betont er, dass
es zwar nötig sei, die künstlerischen Kräfte aus Europa
zu zeigen, akzeptiert aber keineswegs die Sicht der Ausstellenden, die
er alle Extremisten nennt und deren Anführer er sogar als "champions
of these extremists" bezeichnet. Zwar gibt er zu, dass »Wandel«
(change) notwendig sei, sieht jedoch nicht Leben, sondern Tod und Rückschritt
in dieser Kunst. Damit spielt er auf einen Satz im Vorwort zum Katalog
der Ausstellung an, den er selbst zitiert: "to be afraid of what is different
or unfamiliar is to be afraid of life." Diese Kunst überhaupt ernstzunehmen,
sei möglicherweise ein Irrtum, meint Roosevelt weiter. Zuletzt vergleicht
er die Künstler mit Schaustellern, die eine falsche Meerjungfrau ausstellen
und mit der Torheit der Menschen ihre Geschäfte machen, bezichtigt
die Kubisten also des Betruges und der Täuschung: "There
are thousands of people who will pay small sums to look at a faked mermaid;
and now and then one of this kind with enough money will buy a Cubist picture,
or a picture of a misshapen nude woman, repellent from every standpoint."
Heinz Herbert
Mann, „Marcel Duchamp 1917, S. 9
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Du hast versucht, sie zu
finden,
Und hast vergebens geschaut
Das Bild hinauf und hinab,
Hast versucht, sie zusammenzusetzen
Aus tausend zerbrochenen Stücken
Hast bald dich zu Tode gemartert;
Den Grund für dein Scheitern
ich sagen kann:
Es ist keine Lady, er ist nur
ein Mann."
(Calvin Tomkins "Duchamp"
,S.140
er zitiert einen Wettbewerb
zur Enträtselung des Puzzles und als Gewinner von 10 Dollar dieses
Gedicht) |
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Duchamps
Bild trägt im Titel eine Nummerierung II und damit einen Hinweis auf
ein Vorgängerbild. Auch in der Literatur wird dieses Vorgängerbild
immer genannt, aber abgebildet sieht man es höchst selten. Im Internet
bin ich auf eine Abbildung gestoßen, die ich jedoch mit keiner weiteren
Quelle verifizieren konnte. Sollte diese Abbildung (li.u.) zutreffen, so
zeigen sich schon einige Gemeinsamkeiten in der Bildkonzeption.
Auch in Nr. I besteht die Rahmung des Bildmittelfeldes aus vergleichbaren
Treppen- und Stufenelementen. Die Bewegungsspur der Figur ist in Nr. II
stärker aufgelöst, raffinierter verschachtelt und lässt
die Figur am Ende der Bewegung deutlicher hervortreten. Der Rhythmus erscheint
in gleicher Weise differenzierter wie deutlicher akzentuiert durch eine
klarere Reihung der verwendeten Elemente. In der Farbe ist bei Version
II ein einheitlicherer Klang erreicht, das Grün ist stärker zurückgenommen
und Weiß ist ersetzt durch ein leuchtendes Gelb.
Bild oben zeigt einen Blick in die Armory
Show von 1913, den zeltartigen Charakter der großen Halle und die
Unterteilung, die ein wenig den Charakter einer Messehalle vermittelt.
Ein Verzeichnis der ausstellenden
Künstler nennt leider Duchamp nicht, aber:
Salle A : American sculpture
and Decorative Art.
Salle H : French paintings
and Sculpture. Matisse, Denis, Vuillard, Bonnard...
Salle G : English, Irish
and German paintings and drawings. Kaninsky, Walter Sickert...
Salle E : American paintings.
Walt Kuhnt, Arthur B. Davies.
Salle I : French paintings,
watercolors and drawings. Matisse, Picasso, Redon, Puvis de Chavanne.
Salle P : French, English,
Dutch and American paintings. Albert Pinkham Ryder, Daumier, Delacroix,
Théodore Rousseau, Monticelli, Puvis de Chavannes...
Salle O : French paintings.
Mary Cassatt, Degas, Manet, Pissarro, Renoir, Seurat, Sisley, Toulouse-Lautrec.
Salle R : French, English
and Swiss paintings. Gauguin, Picasso, Puvis de Chavannes, Augustus John.
Salle Q : Cézanne
+ Van Gogh. |
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